Wie viele Bundesverfassungsrichter kennt ihr namentlich aus dem Kopf? (Jutta Limbach, Andreas Voßkuhle und Peter Müller zählen nicht.) Eher wenige? Dann geht’s euch wie mir. Seit jeher haben Politikerinnen, die kaum jemand kennt, in einem Ausschuss, von dem kaum jemand weiß, Juristinnen gewählt, deren Namen man vorher nicht kannte – und nach der Wahl wieder vergaß.
Aber vertraut ihr dem Bundesverfassungsgericht? Ja? Dann geht’s euch wieder wie mir. Und laut allen seriösen Studien sind wir damit nicht allein: Seit Gründung der Bundesrepublik genießt das Gericht im Vergleich zu anderen Institutionen das größte Vertrauen. Es gibt also beides gleichzeitig: strukturelles Vertrauen und individuelle Unbekanntheit. Vielleicht ist es gerade diese Kombination, die die unaufgeregte, würdige und geschätzte Art des Gerichts im Umgang mit den großen Rechtsfragen der Zeit ermöglicht.
Zumindest bisher. Denn plötzlich diskutiert die halbe Republik aus dem Zusammenhang gerissene Textpassagen einer bis dahin nur in Fachkreisen bekannten, dort aber hochgeschätzten Staatsrechtsprofessorin. Streckenweise forschte gefühlt die halbe Republik, ob sich hinter juristischen Formulierungen eine linksradikale Abtreibungsaktivistin versteckt. Nach ein paar Tagen ist klar: Nein. Diese Aufregung kam nicht zufällig zustande – sie wurde gezielt erzeugt. Ganz nach dem Muster amerikanischer Kulturkämpfe. Und: von ganz rechts. „Das war doch früher nicht so“, höre ich mich sagen.
Rechtliche Verfahren in der Bundesrepublik waren nie leicht zu durchschauen. Auch ich verstehe vieles nicht immer – aber ich habe nie grundsätzlich an ihnen gezweifelt. Und das mit gutem Grund: Sie funktionieren. Sie begrenzen Macht und sichern Stabilität. Sie haben die Republik gut durch die Zeit geführt. Diese Verfahren sind auf konservativen Prinzipien aufgebaut. Ich bin kein Konservativer. Aber ich bin durch und durch Bundesrepublikaner. Ich glaube an Verfahren. An mühsame Kompromisse. An diese oft unendlich komplizierte bundesrepublikanische Ordnung – weil sie Macht begrenzt.
Wenn ich daran festhalte und sie vor öffentlichem Stellungskrieg schützen will: Bin ich dann plötzlich der Konservative im Raum? Das war doch mal Konsens. Warum scheint das plötzlich nicht mehr zu gelten? Und warum machen da ausgerechnet selbst erklärte Konservative mit – und sei es nur durch Schweigen?
Die Republik steht unter Druck – vor allem von rechts. Deren Strategen planen keinen Marsch durch die Institutionen. Sie wollen deren Autorität untergraben. Besonders das Bundesverfassungsgericht steht wegen eines möglichen AfD-Verbotsverfahrens im Fokus. Der Plan: Man zeichnet das Bild einer ideologisch abgehobenen Elite, die mit dem Leben der „normalen Leute“ nichts mehr zu tun hat. Das klingt nach Kulturkampf, ist aber in Wahrheit Systemkampf – und zielt auf die Integrität derer, die unsere Institutionen tragen.
Dass die Wahl einer Richterin zur Glaubensfrage in der Abtreibungsfrage wird, ist absurd. Unabhängig davon, dass es dazu sachlich keinen Anlass gibt: Die Behauptung, man mache sich durch ihre Wahl gemein mit ihren Positionen, ergibt nur dann Sinn, wenn man glaubt, Richter*innen urteilten politisch oder seien eine Art Auftragsabordnung der Parteien. Beides ist falsch. Grundlage ihrer Arbeit ist die Verfassung – und ihre fachliche Auslegung. Die Infragestellung der Fachlichkeit von Frauke Brosius-Gersdorf durch angebliche Plagiatsvorwürfe? Schneller in sich zusammengefallen, als dass man drei aktuelle Verfassungsrichter aufzählen kann – vorausgesetzt, man kennt deren Namen.
Nein, ich bin kein Konservativer. Gesellschaftlich bin ich progressiv. Ich stelle die Vermögensfrage. Ich streite für Klimagerechtigkeit. Aber keine dieser Fragen verlangt, dass man die bundesrepublikanische Ordnung über Bord wirft. Progressive Politik und konservative Verfahren – das passt besser zusammen, als viele glauben. Denn es gibt einem politischen Streit Regeln. Einem Staat Leitplanken. Einer Gesellschaft Stabilität – gerade im Wandel. Und wenn das schon für mich gilt, dann sollten konservative Parteien erst recht kein Problem mit konservativen Verfahren haben. Wäre das nicht konservativ im besten Sinne?